»Hi, ich bin Mia, ich bin Alkoholikerin.«
Das ist natürlich eine Lüge. Ich glaube nicht in einer Million Jahren, dass ich eine Alkoholikerin bin. Und trotzdem sitze ich an diesem mit Schalen von Keksen und Kaffeekannen beladenen Tisch im Nebenraum einer Kirche und sage diese Grußformel vor 15 fremden Leuten und spüre in meinen Knochen, dass es eine große Sache ist.
Ich spucke die Worte aus wie etwas ungenießbares, das nichts mit mir zu tun hat. Und mein Atem stockt, mein Körper rebelliert. Ich habe das Gefühl, der Moment zieht sich ewig hin und alle starren mich an. Ich sage diese Worte, weil ich weiter kommen will, weil ich so schnell wie möglich auf die andere Seite kommen will. Ich will keine Umwege mehr, keine Zeit mehr verlieren, und ich weiß, dass jeder Hauch von Zweifel, den ich zulasse, mich nur aufhält, an mir zerrt, mich zurück hält von dem, was ich will. Große Dinge. Klarheit. Reinheit. Ein neues Leben. Wahrhaftigkeit. Diese Formel IchbinMiaichbinAlkoholikerin ist das Abrakadabra, das mir die Tür zu all diesen Dingen öffnen soll, ich muss bloß darauf achten, nicht zu denken, während ich sie sage.
Denken ist nutzlos. Denken hat noch nie irgendwas für mich getan in dieser Sache, wenn ich anfange, nachzudenken über mein Trinken, fange ich an, mich mit anderen zu vergleichen. Wir vergleichen uns mit anderen Trinkern (also mit ALLEN anderen), einzig mit dem Ziel, uns zu beweisen, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Wir überdenken die Mengen, die wir trinken, und finden immer jemanden, der mehr trinkt als wir. Wir zählen die Male, die wir in einer Woche, in einem Monat trinken, und wir finden immer jemanden, der öfter trinkt als wir. Wir betrachten, was wir trinken, und finden immer jemanden, der Wodka statt Wein, Schnaps statt Bier trinkt und solange wir jemanden finden, der mehr, stärker, bedenklicher trinkt, der mehr verloren hat, der schlechter aussieht, der schlimmere Unfälle hatte als wir, ist es keine intellektuelle Glanzleistung, uns weis zu machen, dass wir okay sind. Und wir finden immer jemanden.
Ich bin Mia, ich bin Alkoholikerin. Wie bin ich hierher gekommen?
Ich will zu diesem Club gehören. Und wenn es diese Formel ist, die nötig ist, mich dazu zu zählen, dann spreche ich sie aus. Mein Denken ist ruhig gestellt, ausgeschaltet. Mein Kopf ist nicht mein Freund, meinem Kopf ist nicht zu trauen. Mein schlauer Geist wird immer einen Weg finden, mich aus dieser Nummer raus zu argumentieren. Immer. Mein Vater war einer der geistreichsten Menschen, die ich kannte, und sein Geist hat ihn nicht retten können. Sein Alkoholismus hat ihn mit Mitte fünfzig umgebracht und sein toller Intellekt hat einen Scheiß getan, ihm zu helfen.
Auch mein Wille ist keine Hilfe. Jahrelang habe ich meinen Willen beschworen. Ich dachte, die einzige Chance, die ich hätte, mit dem Trinken aufzuhören, wäre, es wirklich zu wollen. denn so macht man Dinge eben als erwachsener Mensch, so setzt man sich durch, so meistert man sein Leben, man will etwas, und dann setzt man es durch, und wenn man es nicht schafft, dann will man es eben nicht genug. Ich trank und wartete, dass mein Wille stärker werden würde. Aber das passierte natürlich nicht. Weil, was ein Alkoholiker will, Dummie, ist: trinken. (Siehst du, was so ein toller Intellekt nützt?) Madonna sagt: wer nichts will, der kriegt auch nichts.
Mein Körper. Mein Körper ist noch okay. Er ist stark und baut stoisch das Gift ab, dass ich ihm zuführe, beschwert sich kaum, nur in den langen Tagen der Kater, die immer schwerer zu ertragen sind, jammert er. Ich gebe ihm Ibuprofen gegen die Kopfschmerzen, lege mich ins Bett gegen die Übelkeit. Andere sehen es meinem Körper noch nicht an, dass ich ihm zuviel Alkohol zumute, ich bin Anfang dreißig. Ich sehe es natürlich. Ich sehe im Spiegel nach einer Trinknacht eine Person, die ich nicht sein will, eine Person, die seltsam fertig mit der Welt ist. Mein Gesicht mit der etwas zu hellen, aufgedunsenen Haut und den Augenringen, und einer Stumpfheit in den Augen. Das Bild im Spiegel ist abstoßend. Doch mein Körper steckt das Gift weg und ich mache ein, zwei, drei Tage Pause (ich brauche neuerdings drei Tage, mich wieder wirklich erholt zu fühlen). Dann weiter. Immer weiter.
Alles nicht so schlimm, nichts passiert, (noch) keine (allzu schlimmen) Unfälle (Das eine Mal, als ich mir den Zahn ausgeschlagen habe, zählt noch nicht als Unfall). Weiter. Warten auf den Willen, warten darauf, dass es schlimmer wird. Warten auf den Tiefpunkt, der meinen Willen begründen wird. Die vernünftigen Gründe, die es gibt (sehr viele, sehr gute) reichen nicht. Ich sage meinem Körper und meinem Geist und meinem Herzen: Es geht uns noch nicht schlecht genug. Gucken wir doch mal, wie viel schlechter es noch werden kann.
Und dann? Kommt der Tiefpunkt nicht.
Oder ich erkenne ihn nicht. Vielleicht ist es die Summe aus vielen kleinen Tiefpunkten, die zusammen gerechnet endlich reichen. Vielleicht ist in mir unbemerkt ein Scheiße-Messgerät mitgelaufen, das bei irgendeiner bei meiner Geburt festgelegten Anzahl von bereuten Nächten in den Selbstrettungs-Modus schaltet. Vielleicht ist es einfach die Langeweile angesichts dieses sich sinnlos wiederholenden Elends.
Vielleicht ist es etwas anderes, etwas Unbekanntes, das schon lange unbemerkt gewachsen ist, das jetzt endlich stark genug geworden ist, das in mir operiert und sich an diesem gewöhnlichen Freitag nachmittag dazu formiert, die Kontrolle zu übernehmen, buchstäblich über meinen Kopf hinweg zu entscheiden, was jetzt passieren wird. Dass wir die Adresse von den Meeting raussuchen, ohne nachzudenken, in dieses Meeting gehen, ohne nachzudenken, dass wir uns an dieses Tisch setzen, ohne nachzudenken, mitmachen, die Formel sagen, zuhören, ohne nachzudenken.
»Hi ich bin Mia, ich bin Alkoholikerin.«
Das reicht fürs erste.
Selbstportrait, 2012
Hallo, liebe Designerin Mia,
Bevor eine zu lange Zeit verstreicht, hier erst einmal eine kurze Rückmeldung auf deinen WORDPRESS-Beitrag.
Ich finde das außerordentlich gut und wichtig und richtig, was du da tust und schreibst. Ich denke, es hilft dir, aber auch vielen anderen – so auch mit! Deinen eindringlichen Beitrag finde ich ausgezeichnet, auch könntest du das publizieren – steht der erfolgreichen Veröffentlichung von Daniel Schneider („Nüchtern“) in nichts nach.
Auch ich bin Designer und habe ein eher schwerwiegendes Problem mit meinem sehr regelmäßigen Alkoholkonsum und den daraus resultierenden gesundheitlichen Problemen.
Eine E-Mail an dateohnedrings@gmail.com ist wieder zurück gekommen!
Ich melde mich! Bin im Job …
Gruß von Josse
Dipl.-Des. und Bildhauer
kindliche_freude@aol.com
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Hi Josse!
Danke für das feedback. Ich habe angefangen mit dem öffentlichen Schreiben, weil ich mich hier in der deutschen Online-Landschaft zu dem Thema so allein gefühlt habe. Wenn man im englischsprachigen Raum sucht, findet man so unglaublich viele nüchterne Blogger, Podcaster und Instagrammer, hier ist aber scheinbar landesweites Schweigen angesagt. Ich glaube, das ist nicht gut. Ich weiß noch nicht so genau, wie man eine Community aufbauen kann, die auch Menschen mit einem „kleinen bis mittleren“ Problem erreicht, aber ich denke weiter darüber nach. Viele Grüße! —Mia
PS Ich repariere diese emailadresse.
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… mein Fehler! Ich hatte das „s“ bei dates…. vergessen! Wie geht es Dir? Bist Du weiterhin clean? Wie lange schon?
Gruß Josse
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Hi Josse, ich habe jetzt 2 Monate ohne Drinks und es ist ziemlich toll. 🙂
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… wunderbar! Glückwunsch!
Ich empfinde den Ohne-Alltag (fast 5 Wochen) als freudlos und fremd! Zu wenig kreativ und euphorisch! Gesund und munter, aber das Salz in der Suppe fehlt!
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Fremd ist es tatsächlich, und manchmal auch noch freudlos.
Aber ich glaube, das liegt einfach daran, dass man sich so lange daran gewöhnt hat, Dinge zu tun, die man eigentlich gar nicht so toll findet, wenn man sie sich nicht schön trinkt. Es dauert seine Zeit, heraus zu finden, was man wirklich gerne macht. Ich war gestern in einem riesigen Technoclub in Amsterdam tanzen und habe gemerkt, dass ich das nüchtern gar nicht so wahnsinnig aufregend finde. Ich finde es viel besser, auf dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren und dabei gute Musik zu hören. Und dann weiß ich das jetzt auch und verbringe mehr Zeit damit als um drei Uhr morgens in einem Club.
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… vermisst Du den Alkohol gar nicht – den Zustand „angetrunken“ – hemmungslos – über alles leicht hinweg – kreativ – „verrückt“ und tollkühn zu sein? Übst Du Deinen Beruf als Designerin aus?
Fühlst Du Dich bei einer Tasse Tee oder einer Bionade nicht bescheuert … bescheuert normal? Normal und vernünftig und spießig – auf „Altwerden“ ausgerichtet?
Heute bin ich 7 Wochen ohne … es geht mir recht gut. Der Leib dankt es mir, der Kopf rebelliert immer noch. Ich schlafe immer besser und schwitze nicht mehr in der Nacht. Meine Träume sind sehr abgefahren – ich kann sie mir merken. Indem ich früh schlafen gehe, entziehe ich mich dem Wachsein. Kreatives Arbeiten fällt mir schwer, konzeptionelles Arbeit geht, na klar, besser!
Freue mich auf eine Antwort und Deinen Kommentar!
Jockel
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Hey Jockel!
Ich habe lange darüber nachgedacht und muss sagen, nein, ich vermisse es nicht. Angetrunken sein, ja, das kann schön sein, allerdings hielt dieser leichte Zustand ja nie lange an, eine halbe Stunde vielleicht, doch dann, beim zweiten Glas Rotwein geht es ja dann auch schon vom angetrunken in Richtung betrunken. Normal und leicht getrunken habe ich ja sowieso schon lange nicht mehr. Kreativer hat mich das Trinken auch schon lange nicht mehr gemacht. Ich habe meine beste kreative Arbeit ohnehin immer eher nüchtern am frühen Morgen gemacht. Und verkatert habe ich rein gar nichts zustande bekommen. Heute bin ich nicht „besser“ in meiner Arbeit, aber deutlich produktiver.
Nein, ich weiß, ich war weder kreativer, noch lustiger noch schlauer mit dem Trinken. Es war mir bloß alles egaler. Diesen Zustand vermisse ich schon auf gewisse Weise, den Zustand der Entspannung, der dadurch ausgelöst wird, dass man „auscheckt“, sich distanziert von dem, was passiert. Ich weiß einfach ganz sicher, dass Mut und Verrücktheit, echte Verrücktheit, nicht vom Trinken kommt. Alkohol kann nichts in dich hinein zaubern, was nicht sowieso schon da ist!
Ich empfinde es schon manchmal als anstrengend, die ganze Zeit wirklich „da“ zu sein, die ganze Zeit wirklich präsent zu sein, ohne Pause, ohne Versteck. Das führt schon dazu, dass ich mich aus gewissen Situationen einfach früher verabschiede als früher; Langweilige Situationen, Gespräche, die mir nichts Neues bringen. Mit Alkohol trinkt man sich die erträglich, aber nichts wird davon tiefsinniger oder interessanter.
Du sagst, du empfindest dich als „bescheuert normal“ und spießig? Ich finde, das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich bin in meinem Umfeld praktisch die einzige, die nicht trinkt. Auf Alkohol verzichten ist doch in unserer Welt alles andere als normal, ich würde sogar sagen, es ist fast schon ein subversiver Akt. Echte Rebellion! Und wenn ich ganz ohne was zu trinken tollkühn bin, das ist dann wirklich badass. Besoffen mutig sein kann jeder 🙂
Sind wir fast gleichauf, ich habe morgen 11 Wochen hinter mir. Die längste nüchterne Zeit die ich je hatte.
Bleib dran und hab eine gute, traumreiche Nacht 🙂
Grüße! —Mia
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Hallo Mia,
Du hast natürlich völlig recht! Deine Antwort ist für mich sehr wichtig für mich! Danke!!!
Ich glaube (fürchte), ich muss meine Erlebensvermögen neu erlernen in meiner Dauerabstinenz! Ich fühle mich sehr unsicher, geradezu fremd in mir, meinem Haus, dass mir so vertraut war wie eine zweite Haut – ein Kokon im Zusammenklang mit Alkoholischem. Ich fühle mich fremd in dieser nüchtern betrachteten Welt.
„Wein, Weib und Gesang“ – vitale südländische Musik – frische Brot, Käse, Oliven und ein guter Rotwein, machen das Leben lebenswert. Lebensfreude – Sternstunden des Seins – nunmehr ein Abgesang.
Ja, es ist anstrengend, den ganzen Tag „da“ zu sein bis hin zum (erlösenden) Schlaf! Der Morgen allerdings ist ein Segen – ein Sieg – eine neue, kaum bekannte Form des Genusses.
Ich freue mich auch jetzt auf einen „trockenen“ Schlaf!
Glückwunsch zu den gut 11 Wochen in Freiheit – weiter so ;-)!
meint Josse (Jockel)
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